- Welt der Wunder Redaktion
- 22.03.2016
Der Schatz wird geplündert
Leonardos zukunftsweisende Visionen
Heute, fast 500 Jahre nach dem Tod Leonardo da Vincis, kennen wir also nur ein Fünftel von dem, was er gewusst hat. Diesen Notizbüchern, Codices genannt, verdanken wir Leonardos anatomische Studien, seine Aufzeichnungen in Spiegelschrift und die Konstruktionsskizzen zu technischen Erfindungen, die zum Teil erst Jahrhunderte später realisiert werden sollten. So weit, so bekannt. Aber in seinen noch erhaltenen Aufzeichnungen steckt mehr, bisher kaum Beachtetes. In der größten von Leonardos erhaltenen Schriftensammlungen, dem Codex Atlanticus, finden sich Passagen, die man leicht überblättert. Irgendwann Ende des 15. Jahrhunderts müssen die kurzen Texte entstanden sein, die er mit „Profetie“ übertitelte.
Leonardo maskiert diese Prophezeiungen als Spaß, als Unterhaltung für den Adel, auf dessen Wohlwollen er angewiesen ist. Das erklärt, weshalb er sich zu einigen seiner Voraussagungen selbst Regieanweisungen verordnete: „Sage es in wilder, wahnsinniger Art, als käme es von einem Irren“, steht da als Randbemerkung. Und wir können uns vorstellen, wie ein theatralischer Leonardo da Vinci die Augen aufreißt, vor den erschreckt kichernden Hofdamen wilde Grimassen schneidet und ruft: „Aus der Erde wird hervorkommen, wer mit grauenvollem Gebrüll alle Umstehenden betäuben und mit seinem Atem Menschen töten und Städte und Burgen zerstören wird.“ Eine apokalyptische Vision, die am Mailänder Hof vor 500 Jahren sicher für Schauder und Belustigung sorgte.
Atombombe, Autos oder Internet: Wusste Leonardo, was er da prophezeite?
age, die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, in die Zukunft zu projizieren. Er konnte anscheinend sehen, wie sich die moderne Welt durch den Einsatz neuer Technologien entwickeln würde. Mit anderen Worten: Leonardo konnte in die Zukunft blicken.
„Etwas aus der Erde, das mit seinem Atem Städte zerstören wird“ – sofort baut sich vor unserem inneren Auge der Atompilz von Hiroshima auf. „Wagen, die mit unglaublicher Gewalt daher fahren“: Für den Mann, der die Funktionsweise des Getriebes bereits durchdacht hat, ist der Schritt zum heutigen Auto nicht fern. Und das Meerwasser, das sich über die Gipfel erhebt – heute wissen wir um das Ansteigen der Meeresspiegel, das in den nächsten Jahrzehnten das Schicksal der Erde bestimmen wird. „Er glich einem Menschen, der in der Finsternis zu früh erwacht war, während die anderen noch alle schliefen“, sagte Sigmund Freud vier Jahrhunderte nach Leonardos Tod über ihn. Leonardo ist seiner Zeit nicht nur weit voraus – auch weiß niemand so viel über die Zukunft wie er. Das lässt zwei Schlüsse zu: Entweder er war selbst schon in die Zukunft gereist. Oder – was wohl wahrscheinlicher ist – er hat einen für Normaldenkende schier unfassbaren Zugang zu den Dingen um ihn herum. Die Grenzen von Raum und Zeit scheinen für ihn nicht zu gelten.
Leonardo, der Prophet: Woher stammt sein Wissen über die Zukunft?
Doch wie genau tickte das Universum in Leonardos Kopf? „Sehr erhabener Herr, nachdem ich mit großer Gründlichkeit die Arbeit aller, die sich Kriegsbaumeister nennen, studiert habe, lege ich meine geheimen Erfindungen zu Füßen Eures herrschaftlichen Thrones und erbiete mich, ihre Ausführung nach Euren Wünschen und Befehlen zu besorgen.“ Mit diesen kühnen Worten bewirbt sich Leonardo da Vinci 1482 beim Mailänder Herrscher Ludovico Sforza. Fünf Großmächte teilen zu der Zeit Italien unter sich auf: Venedig, Mailand, Florenz, Rom und Neapel – Fürsten- und Königshöfe, die sich durch häufig skrupellose Eroberungen gebildet haben. Italiens Herrscher bekämpfen sich gegenseitig wie Warlords. Nur dem, der zur richtigen Zeit auf der richtigen Seite steht und sich praktisch unentbehrlich macht, ist Erfolg beschieden.
Für Leonardo da Vinci, den Künstler, Erfinder, Wissenschaftler und Betreiber geheimer und streng verbotener anatomischer Studien, sind es gefährliche und unruhige Zeiten. Er lässt sich heimlich Leichen aus Krankenhäusern bringen, um sie zu sezieren. Also braucht er einen mächtigen Schutzherrn, um ungestört seinen Forschungen nachgehen zu können. Und er setzt auf den gewissenlosen, kalten Herrscher Ludovico Sforza, der unrechtmäßig auf dem Mailänder Thron sitzt – und von Feinden umgeben ist. Mit Kunstfertigkeit allein ist dieser Mann nicht zu gewinnen.
Mobile Brücken, revolutionäre Panzerwagen: Die Waffen der Zukunft
Ein genialer Geist, der seiner Zeit Jahrhunderte voraus ist
Sforza will diese Waffe natürlich haben, am besten sofort. Aber er schätzt die Lage falsch ein. Die meisten von Leonardos hochfliegenden Waffenplänen sind mit den technischen und handwerklichen Mitteln seiner Zeit gar nicht realisierbar. Sein konstruktiver Geist hatte sich wieder einmal auf eine Zeitreise in die Zukunft begeben. Und er weiß, dass erst die Menschen viele Generationen nach ihm zur Umsetzung seiner Maschinen fähig sein werden. Nicht umsonst hinterlässt er allein zum Vogelflug 160 Skizzen und fügt Konstruktionsvorschläge zu Flugmaschinen an. Andere Denker hätten sich davon abschrecken lassen – wozu etwas erfinden, das keiner versteht oder bauen kann?
Leonardo aber plant für die Zukunft, die er wohl ständig vor seinem geistigen Auge aufziehen sieht: Wenn eine Herzklappe auf eine bestimmte Weise funktioniert, muss das doch auch mit einer mechanischen Pumpe klappen. Wenn eine Kanone allein funktioniert, warum dann nicht gleich 36 zu einer Batterie zusammenschalten? Wo seine Zeitgenossen „groß“ sagen, sagt Leonardo „maximal“. Leonardo kennt keine Grenzen, weil er sich für restlos alles interessiert. Deshalb ist er auch der einzige Mensch seiner Zeit, der sich nicht nur vorstellen kann, was in 50, sondern auch, was in 500 Jahren geschehen wird.
Leonardo beweist: Die Unendlichkeit ist eine Maschine
Leonardos Fortschritts-Code: „Es geht immer weiter“
Auch die mittelalterliche Medizin seiner Zeit versetzt Leonardo um mehrere Jahrhunderte in die Zukunft: Er ist der erste Mensch, der mithilfe von Leichenuntersuchungen die Arteriosklerose beschreibt. Doch offiziell ist das Sezieren verboten. Der menschliche Leib ist für die Kirche ein Schatz der Schöpfung, der nicht angetastet werden darf. Noch ein halbes Jahrhundert nach Leonardos geheimen Körperstudien wird der belgische Anatom Andreas Vesalius wegen „Leichenraubes“ zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Doch Leonardo bleibt unangetastet – er ist den Mächtigen einfach zu wertvoll.
Erst 1516, mit über sechzig Jahren, scheint Leonardo des ewigen Taktierens, Versteckens und Fliehens müde: Auf Drängen des französischen Königs geht er nach Frankreich, wohl wissend, dass er seine Heimat nie wiedersehen wird. All seine Aufzeichnungen nimmt er mit sich, gleichsam ein Atlas seines genialen Geistes, der nach seinem Tod in aller Herren Länder verstreut werden soll. Doch er hat ihn nie vollendet – das letzte Wort, das er schreibt, ist gleichsam an die Zukunft gerichtet: „etcetera“. Leonardos Code für „Es geht immer weiter“.